Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auch bei Suchterkrankungen

Rechtsgrundlage: Entgeltfortzahlungsgesetz

§ 3 Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
(1) Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. ....

Der Fall:

Ein alkoholabhängiger Arbeitnehmer hatte zwei erfolglose Entzugstherapien absolviert. Mit einer Blutalkoholkonzentration von 4,9 Promille erlitt er danach eine Alkoholvergiftung und war für die Dauer von insgesamt 10 Monaten arbeitsunfähig. Der Arbeitgeber verweigerte die sechswöchige Entgeltfortzahlung und berief sich zur Begründung darauf, dass den Arbeitnehmer ein Verschulden im Sinne des § 3 EntFG treffe.

Die Entscheidung:

Ein Entgeltfortzahlungsanspruch besteht nur dann, wenn den Arbeitnehmer kein Verschulden trifft. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts setzt Verschulden iSd § 3 einen gröblichen Verstoß gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten voraus, dessen Folgen auf den Arbeitgeber abzuwälzen, unbillig wäre. Ansonsten hätte der Arbeitnehmer schon bei leichtem Verschulden, zum Beispiel bei einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall keinen Entgeltfortzahlungsanspruch. Dementsprechend bezeichnet man das Verschulden im Sinne von § 3 auch als das Verschulden gegen sich selbst. Unter Berufung auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt das Bundesarbeitsgericht seine frühere Rechtsprechung auf und sieht Alkoholabhängigkeit nicht mehr als ein Verschulden im Sinne von § 3 an. Das Gericht führt auszugsweise folgendes aus:

" Der Ausbruch einer Alkoholkrankheit beruht auf einer multifaktoriellen Genese. Dies bedeutet, dass weder die abhängigkeitserzeugende Wirkung des Alkohols noch in der Person oder auf diese einwirkende Faktoren jeweils für sich genommen zur Entstehung der Sucht führen. Vielmehr handelt es sich um eine multikausale, interaktive Entwicklung. Zu dieser tragen - neben dem Faktor Alkohol selbst - unter anderem die genetische Prädisposition, die individuelle psychische Disposition, das psychosoziale Umfeld einschließlich der Herkunftsfamilie und die sozialen Lebensbeziehungen bis hin zu religiösen Einflüssen bei....... Hinzu kommen neurobiologische und neurochemische Folgen des Alkoholkonsums und damit verbundene verhaltensrelevante Veränderungen der Zellstruktur....."

Dementsprechend hat das Bundesarbeitsgericht den Arbeitgeber als verpflichtet angesehen, Entgeltfortzahlung zu leisten.

Quelle: BAG, Urteil vom 12.3.2015 6 AZR 82/14

Fundstelle: BeckRS 2015, 67596

Zum Thema: Arbeitsrecht / Entgeltfortzahlung / Suchterkrankung / Alkoholabhängigkeit / Fachanwalt / Schwerin



Eingestellt am 19.06.2015 von M. Vogel
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