Mindestunterhalt: Muss ich wirklich Mindestunterhalt zahlen?

Mindestunterhalt - Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit - Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners - Verpflichtung zur Leistung von Überstunden

Antwort von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht Martin Vogel, Schwerin

Die Unterhaltspflicht ist im Bürgerlichen Gesetzbuch, dort in den § § 1601 ff BGB geregelt, auszugsweise wie folgt:

§ 1601 BGB: Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren.

§ 1603 BGB:

(1) Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren.

(2) Befinden sich Eltern in dieser Lage, so sind sie ihren minderjährigen Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Den minderjährigen Kindern stehen volljährige unverheiratete Kinder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gleich, solange sie im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils leben und sich in der allgemeinen Schulausbildung befinden. Diese Verpflichtung tritt nicht ein, wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist; sie tritt auch nicht ein gegenüber einem Kind, dessen Unterhalt aus dem Stamme seines Vermögens bestritten werden kann.

Die Höhe des Kindesunterhaltes ist gesetzlich nicht geregelt sondern wird in regelmäßigen Abständen durch die Düsseldorfer Tabelle festgesetzt. Diese enthält 10 Stufen für insgesamt vier Altersgruppen und zwar bis 6 Jahre, bis 11 Jahre, bis 18 Jahre und ab 18 Jahren. Die erste Stufe befasst sich für die jeweilige Altersstufe mit dem Mindestunterhalt und ist Ausgangspunkt geregelt mit 100 % des Mindestunterhalts und steigert sich bis insgesamt 160 %. Die Unterhaltstabellen der Oberlandesgerichte regeln den sogenannten Selbstbehalt. Dieser beträgt gegenwärtig 1160 € ( Stand: 1.1.2021 ) und wird um 10 % gekürzt, sofern ein Unterhaltsschuldner in einer Ehe oder eheähnlichen Lebensgemeinschaft zusammenlebt. Viele unterhaltspflichtige verdienen nicht genug, um davon den Mindestunterhalt zu zahlen. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: eine Floristen hat zusammen mit ihrem Ehemann zwei Kinder. Nach Trennung und Scheidung leben die Kinder beim Vater. Die Mutter arbeitete zunächst in Teilzeit und später in Vollzeit. Sie erzielt ein Einkommen entsprechend dem Mindestlohn von gegenwärtig 9,35 € pro Stunde, monatlich mithin 1617,55 €. Dies entspricht in der Steuerklasse 1 (mit Kirchensteuer) einem Nettogehalt von 1199,67 €. Der Vater begehrt Unterhalt. Amtsgericht und Oberlandesgericht verurteilen die Mutter zur Zahlung des jeweiligen Mindestunterhalts in Höhe von 100 %. Schon dem ersten Anschein nach scheint dies nicht in Ordnung zu sein. Bei einem Nettogehalt von 1199,67 € und einem Freibetrag der allein lebenden Mutter von 1160 € verbleibt ein entsprechend der Düsseldorfer Tabelle zu verteilender Unterhalt von 39,67 €. Trotzdem wird die Mutter zur Zahlung von 100 % des Mindestunterhalts verurteilt, weil sie nicht dargelegt hat, dass sie ihrer gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit nachgekommen ist. Die gesteigerte Erwerbsobliegenheit ergibt sich aus § 1603 Abs. 2 BGB ( " Eltern sind verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinderunterhalt gleichmäßig zu verwenden "). Die Kindesmutter verweist im Prozess darauf, dass Sie als Floristen kein höheres Einkommen erzielen könne und die Leistung von Überstunden unzumutbar sei.

Gem. Tarifvertrag zwischen der Gewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt und dem Floristenverband steht Floristen ein Einstiegsgehalt von rund 1650 Euro zu, das sich im zweiten Berufsjahr auf rund 1730 Euro steigert. Bei einem erweiterten Verantwortungsbereich können Floristen einen Verdienst von 2000 Euro brutto erhalten.

Bei 2 Kindern im Alter von unter 6 Jahren beträgt der Tabellenunterhalt bei 100 % des Mindestunterhalts 393 € pro Kind . Hiervon ist das staatliche Kindergeld mit der Hälfte in Höhe von 109,50 € in Abzug zu bringen, sodass sich ein Betrag von 283,50 € pro Kind ergibt. Für zwei Kindern müsste die Mutter also 567 € zahlen. Bei einem Selbstbehalt von 1160 € und eine Unterhaltsverpflichtung für 2 Kinder in Höhe eines Zahlbetrages von 567 € müsste die Mutter also 1727 € netto verdienen. Dies entspricht einem Bruttoeinkommen von 2557,21 € und einem Stundenlohn von 14,78 €. Ein derartigen Stundenlohn und ein derartiges Gehalt lässt sich jedenfalls für eine Floristen in Mecklenburg-Vorpommern und auch an vielen anderen Orten nicht erzielen. Die Kindesmutter ist also nicht leistungsfähig bzw. nur in Höhe von 39,67 €, wobei berufsbedingte Aufwendungen noch nicht berücksichtigt sind. Trotzdem verurteilten Amtsgericht und Oberlandesgericht zur Zahlung von Mindestunterhalt.

Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 9.11.2020 1 BVR 697/20 ) hat diese Entscheidung aufgehoben und unter Berufung auf frühere Entscheidung eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit der Kindesmutter gesehen. Die Berücksichtigung fiktiven Einkommens ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur zulässig, wenn auch die Ausnutzung der gesteigerten Erwerbsbemühungen Aussicht auf Erfolg haben, d. h., ein Unterhaltsschuldner in seiner konkreten Situation auch tatsächlich in der Lage wäre, so viel zu verdienen, dass er davon den Mindestunterhalt zahlen kann. Dies war bei der Kindesmutter im vorigen Beispiel nicht möglich.
Nach Auffassung des Gerichtes wird die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten nicht ausschließlich durch sein tatsächliches Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine Erwerbsmöglichkeiten. Danach ist es für eine Floristen unmöglich, mit einer normalen Berufstätigkeit ein Einkommen zu erzielen, dass sie zur Zahlung von Mindestunterhalt für 2 Kinder in die Lage versetzt.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob ein Unterhaltsschuldner, hier die Kindesmutter, gegebenenfalls verpflichtet ist, unter Berücksichtigung ihrer gesteigerten Erwerbsobliegenheit Überstunden zu leisten. Die Anforderungen, die die Gerichte in diesem Zusammenhang an die Erwerbsobliegenheit des Bauunterhaltspflichtigen Elternteils stellen, gehen teilweise zu weit. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.3.2003 und der dem folgenden Rechtsprechung des BGH sind für die Aufnahme einer derartigen Tätigkeit vor allem folgende Umstände von Bedeutung: die Beschränkungen des Arbeitszeitgesetzes sind zu berücksichtigen (Höchstarbeitszeit wöchentlich 48 Stunden). Zusätzliches zu prüfen, ob und in welchem Umfang es dem betreffenden Unterhaltsverpflichteten unter Abwägung seiner von ihm dazu liegenden besonderen Lebens und Arbeitssituation sowie gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben. Schließlich ist zu prüfen, ob es Nebentätigkeiten entsprechender Art für den betreffenden auf dem Arbeitsmarkt gibt und der Aufnahme einer solchen Tätigkeit wiederum keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Die Darlegung zu Beweislast trifft insoweit den Unterhaltsverpflichteten (Wendl/Dose, das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 2 RZ 366). Mit anderen Worten: es sind wie so häufig bei der Abwägung alle Umstände des Einzelfalls auf Seiten des Unterhaltsverpflichteten und des Unterhaltsberechtigten zu prüfen und zu berücksichtigen.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht Martin Vogel, Schwerin zum Thema:

Mindestunterhalt - Leistungsfähigkeit - Erwerbsobliegenheit - Mehrarbeit / Überstunden